Fürs neue Jahr möchten wir Ihnen alles Gute, ja nur das Allerbeste wünschen. Zum Guten gehören auch die Gedanken und so erlauben wir uns, Ihnen eine Geschichte zum Nachdenken zu schenken.

Kleiner Wunschstern

Es war einmal ein kleiner Stern, der hing dort oben am Himmelszelt und leuchtete zu uns hinunter. Dieser kleine Stern fühlte sich sehr einsam. Nun magst Du denken: “Warum denn das, denn dort oben sind doch tausend und abertausend kleine Sterne.” Aber Du musst wissen, der Abstand zwischen den Sternen ist unermesslich groß, viel größer als der Weg von hier nach China. Und dort oben ist es sehr kalt und dunkel. Der kleine Stern hatte nur seine eigene Wärme und sein eigenes Licht. Ja, weit entfernt sah er die anderen Sterne leuchten, aber das steigerte seine Sehnsucht nach Gesellschaft nur ins Unermessliche.

Eines Tages, als der kleine Stern sich wieder ganz einsam fühlte, da kam eine Sternschnuppe an ihm vorbeigeschossen. Auf ihrem Schweif saß eine goldene Gestalt, ein Mädchen von unermesslicher Schönheit. Sie verlangsamte die Fahrt ihres Sternengefährts und hielt ganz nahe bei dem kleinen Stern. “Kleiner Stern”, sprach die Erscheinung, “Du siehst traurig aus”, und ihre Stimme war fröhlich und klar. Der kleine Stern gab trotzig zurück: “Ja, ich bin traurig. Du, du kannst mit deinem Sternengefährt durch das Universum reisen, die anderen Sterne besuchen. Du bist nicht einsam. Aber ich, ich bin es. Und ich kann nicht weg von hier.” Da lachte die Gestalt, und es klang wie ein feiner Silberregen. “ Aber kleiner Stern, wie unwissend du doch bist. Weißt du denn nicht, dass du ein Wunschstern bist? Du hast die Macht, die Wünsche der Menschen zu erfüllen, und auf diesem Weg auch deinen eigenen.” “Menschen? Was ist das?” fragte der kleine Stern. Das Lichtmädchen hob die Hand, und ein feiner Silberstrahl schoß auf einen kleinen Punkt weit entfernt zu. “ Dort befindet sich der Planet Erde. Auf ihm leben Wesen, die sich Menschen nennen. Es sind seltsame Gestalten, voller Wünsche und Sehnsucht, aber auch voller Poesie und Phantasie. Unter ihnen gib es solche, die Kinder heißen. Sie sind kleiner und schwächer als die anderen, doch sie haben mehr als alle die Macht, sich Dinge zu wünschen. Sie wissen noch, wie man die richtigen Fragen stellt. Und ihre Augen leuchten wie ihr Sterne.” Der kleine  Stern seufzte. “Das hört sich nach einem ganz wunderbaren Ort an. Aber wie soll ich dort hinkommen?” “Ich bin noch nicht fertig.” Da war ein Ton in der Stimme des Lichtwesens, welcher den kleinen Stern erschreckte. “Nicht in allen Menschen ist dieser Kindteil noch lebendig. Viele haben ihn tief in sich vergraben, vergessen oder gar getötet. Wenn du wirklich auf die Erde willst, so will ich dich gerne dorthin geleiten, doch bedenke: Den Menschen zu finden, dem du ein Wunschstern sein kannst, wird nicht leicht werden. Dort unten bist du unter vielen, und doch einsamer als hier oben. Willst du es dennoch versuchen?” “Ja, das will ich”, antwortete der kleine Stern, und schon hatte ihn die Lichtgestalt in silbernes Licht eingewoben. “So, wie du jetzt bist, kannst du dort unten nicht sein.

  Ich gebe dir eine Gestalt, die der Erde entspricht. Aber vergiß nicht, die, in welchen das Kind noch lebendig ist, werden tiefer blicken. Sie werden dich als das erkennen, was du wirklich bist. Und nun schlafe, kleiner Stern. Eine weite Reise liegt vor dir. Schlafe..”

Es war naß, und es war kalt. Tausend Lichter sausten mit wildem Gebrüll Kometenschnell an ihm vorbei. Überall blinkte und blitzte es, und zweibeinige Wesen huschten tief in ihre Stoffhüllen vergraben durch das, was sie Regen nannten. Das also ist die Erde, dachte sich der kleine Stern. Ein rollendes Drahtwesen mit einem Licht an seiner Vorderseite sauste auf ihn zu. Auf ihm saß ein kleinerer Mensch. Ein Kind? Ja, seine Augen blitzen vor vergnügen über den Regen. Der kleine Stern versuchte so hell wie möglich zu leuchten, um es auf sich aufmerksam... Wusssssch, und da hatte es den kleinen Stern überrollt und sauste schon weiter, ohne sich einmal umzudrehen. Der kleine Stern wurde in die Luft geschleudert und in eine rechteckige Öffnung dieser großen Klötze aus Stein, die Häuser genannt wurden. Dort blieb er vor einer beweglichen Glaswand liegen. Zitternd blickte er in die laute Welt hinaus. Das Brüllen der Autowesen machte ihm Angst, und die Lichter, sie waren alle so kalt. Selbst die weit entfernten Sterne hatten ihm mehr Trost gespendet. Er kroch noch tiefer in seine Ecke und dachte sich: “Hätte ich doch nur auf die Lichtfrau gehört. Wäre ich doch nur dort oben geblieben.” Mit der Zeit ließ der Regen nach, und die Autowesen kamen nur noch selten vorbei gedonnert. Viele der Lichter verblaßten, und bald schon fühlte der kleine Stern sich wieder wie am Himmelszelt. Nun, alles ist besser als das Getöse von vorhin, dachte sich der kleine Stern, gähnte einmal herzhaft und schlief dann ein.

Eine Hand packte ihn und hob ihn auf. Noch nicht ganz wach riß der kleine Stern seine Augen auf und blickte in ein furchtbar schmutziges Gesicht, halb bedeckt mit einem filzigen Bart und ausgestattet mit zwei wild funkelnden Augen. “Was haben wir denn da?” Der Mensch drehte den kleinen Stern hin und her wie eine kostbare Münze. “Einen Stoffstern. Wer den hier wohl verloren hat? Guck bloß nicht so entsetzt. Du bist auch nicht viel sauberer.” Erschrocken schluckte der kleine Stern. Konnte der Mann etwa seine Gedanken lesen? “Unsinn, wie sollte ich so was können? Stoffsterne denken nicht.” Ungeschickt und etwas heftig setzte er sich in die Ecke des Hauseingangs und legte den kleinen Stern neben sich. “Du bist ein Wunschstern, hab ich recht?” Der kleine Stern konnte sich nur wundern. Sollte in diesem sich ein Kind verstecken? “Früher”, setzte der schmuddelige Mann an, “früher hatte ich viele Träume. Wollte berühmt werden und so, wollte, daß sich die Menschen auf der Straße nach mir umdrehen.” Aus der Tiefe seines Mantels, oder besser seinen Überresten, fischte er eine Flasche heraus, setzte an, trank, und hustete dann kräftig. “Nun, umdrehen tun sich manche, aber nur aus Ekel, nicht aus Bewunderung. Aber das ist nicht das schlimmste. Weißt du, was das Schlimmste ist?” Der kleine Stern wußte es nicht. “Die Menschen, die sich nicht umdrehen, die sind das Schlimmste. Für die existierst du nicht. Du paßt nicht in ihre heile Welt.” Er spuckte einen dicken Batzen auf den Bürgersteig. “Heile Welt. Ich sag dir was. Meine Welt ist heiler als deren. Denn ich traue mich wenigstens, sie anzuschauen.” Dem kleinen Stern tat der Mann leid. Anfangs war er erschrocken vor seinem Äußeren, aber nun sah er tiefer. Er wünschte sich wirklich, ihm helfen zu können. Ob er sein Wunschstern sein konnte? “Du bemitleidest den falschen, mein Kleiner. Ich kann noch sehen. Hab Mitleid mit denen, die blind sind. Und das mit dem Wunschstern vergiß mal ganz schnell wieder. Ich habe aufgegeben, weißt du. Eine Schande, aber die hier hat mich besiegt.” Mit diesen Worten hob die Flasche an den Mund und trank einen kräftigen Schluck. Dann fuhr er fort: “Ich könnte ihr vielleicht entkommen, aber wofür? Weißt du, wenn du mir wirklich helfen willst, dann finde einen Menschen, für den es sich noch lohnt, zu kämpfen. Meine Wünsche gelten nur noch der nächsten Flasche.” Pling. Der schmuddelige Mann nahm den nächsten Schluck, und spuckte ihn sogleich wieder auf die Straße. Ungläubig starrte er auf die Flasche. Sie war voll, und das war nicht der billige Fusel, an den er sich gewöhnt hatte. Das war verdammt noch mal besser. Vorsichtig hob er den kleinen Stern hoch. “Das warst du. Leugnen ist zwecklos. Willst du mir so helfen? Mann, du mußt noch viel über das Wünsche erfüllen lernen.” Und du, dachte sich der kleine Stern, über das Wünschen. Verdutzt starrte er den Stoffstern an. “Du hältst dich wohl für neunmal klug. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, du denkst doch.” Und wenn du noch denken könntest, dachte der kleine Stern, dann würdest du erkennen, dass du den Menschen nur zu gut kennst, für den zu kämpfen sich lohnen würde. “Mann, ich rede schon mit Sternen. Mit Stoffsternen.” Der schmuddelige Mann schüttelte den Kopf, legte den Stern zurück in seine Ecke und ging. Die Flasche ließ er stehen.

Ein neuer Tag begann, und die Sonne ging auf. Etwas schöneres hatte der kleine Stern noch nie gesehen. So viel Licht und Wärme. So viele Farben, und das Funkeln der Tropfen der vergangenen Nacht. Langsam verstand der kleine Stern, was die Lichtgestalt mit der Poesie meinte. Wenn die Menschen das jeden Tag sehen durften, wie glücklich mußten sie doch sein.

Mit dem Licht kamen auch die Autowesen zurück, aber sie waren nur noch halb so erschreckend wie die Nacht zuvor. Wie schnell man sich doch an alles gewöhnt, dachte sich der kleine Stern. Dann erinnerte er sich an den Mann mit der Flasche und versprach sich: An das aufgehen der Sonne will ich mich nie gewöhnen. Mit einem mal wurde es dunkel. Hey, dachte sich der kleine Stern, was soll das. “Entschuldige, ich hab dich nicht gesehen.” Das Mädchen stand wieder auf und setzte sich dieses mal neben ihn. Sie war wunderschön, und ihre Augen leuchteten wie zwei kleine Sterne. Das, dachte sich der kleine Stern, muß es sein, was ich gesucht habe. Das Mädchen nahm ihn auf und legte ihn in ihren Schoß. “Du bist vielleicht schmutzig. Na, egal. Wo bleibt er denn nur. Ich warte schon so lange. Meine Füße tun mir weh. Und ich habe Hunger. Hunger nach seiner Nähe.” Das konnte der kleine Stern gut verstehen. Diesen Hunger kannte er nur allzu genau. “Er ist so furchtbar unzuverlässig. Nie kann er pünktlich kommen. Aber, weißt du, er kann mir eine Art von Geborgenheit geben, die ich davor nicht kannte. Und ich muß ihn ja nicht gleich heiraten.” Heiraten, was ist das, wollte der kleine Stern wissen. “Es ist ja auch noch etwas früh für so etwas. Sich treue zu schwören für das ganze Leben, füreinander da zu sein in guten wie in schlechten Zeiten, das ist leicht gesagt. Aber was weiß ich denn schon von schlechten Zeiten? Ich hatte immer jemanden, der auf mich aufgepaßt hat, und nun soll ich für jemanden da sein, Kinder in die Welt setzten und ihnen beibringen, sich in ihr zurecht zu finden? Ich finde mich ja selbst noch nicht in ihr zurecht.” Das machte den kleinen Stern nachdenklich. Ging es ihm nicht genauso? Er war in einer für ihn fremden Welt, ganz auf sich allein gestellt, und sollte für einen anderen Menschen da sein? Wie hatte die Lichtgestalt sich das nur vorgestellt? “Und doch, wenn ich bei ihm bin, dann glaube ich, zusammen können wir alles schaffen. Gemeinsam können wir die Welt aus den Angeln heben. Denn wir sind füreinander da, der eine für den anderen. Wenn einer  schwach ist, kann der andere für ihn stark sein. Denn voreinander müssen wir keine Masken tragen. Wir dürfen einander unsere Ängste eingestehen, und dann auch vor uns selbst. Klingt das kitschig?” Nein, dachte der kleine Stern. Das klingt einleuchtend. “Ah, sieh doch, dahinten kommt er. Und eine Rose hat er auch dabei. Machs gut, kleiner Stoffstern. Vielleicht findet dich das Kind ja wieder, daß dich verloren hat.” Behutsam lehnte sie ihn wieder an die Flasche, küßte die Spitze ihres Zeige- und Mittelfingers und drückte sie dem kleinen Stern auf die Stirn. Dann stand sie auf. Kurz runzelte sie noch die Stirn, als sehe sie etwas, das ihr eben noch verborgen geblieben war, dann rief der Junge ihren Namen, und sie rannte los. Wie seltsam diese Menschen doch sind, dachte der kleine Stern, und dachte an das Leuchten in ihren Augen und das kleine Feuer, das in dem Mädchen brannte. Sie haben so etwas wertvollen, wie dieses Leuchten oder den Sonnenaufgang, und doch gibt es welche, die verlieren die Hoffnung.

“Bumm! Bumm! Der Sternenterminator stürzt sich auf den Killerstern.” Ein kleines Wesen aus Plastik, ganz eckig und kantig, und mit seltsamen, gefährlich aussehenden Dingen in den Händen und auf den Schultern, watschelte auf den kleinen Stoffstern zu. Gehalten und bewegt wurde er von einer weitaus größeren Hand, die zu einem Arm gehörte, der an einem kleinen Menschen hing. Wie seltsam, dachte sich der kleine Stern, und dachte an das Kind auf dem Drahtding. Aber dieses hatte ihn gesehen. Vielleicht... “Er lädt seine Sternsprengpistole...” Das Kind bewegte einen der Plastikarme nach unten, so, daß das seltsame Ding in der Hand nun auf den Stern zielte. Nein, was soll das, dachte sich der Stern. Ich bin doch kein Killerstern. Das Kind stockte. “Bist du doch.” Bin ich nicht. “Ich bin größer, und ich bestimme! Du bist ein Killerstern, und ich spiele jetzt Sternenterminator gegen Killerstern.” Das ist doch kein Spiel, dachte sich der kleine Stern. “Wieso nicht.”

Spiele, dachte der Stoffstern, sind lustig. Ich hab mal gesehen, wie ein Stern verloschen ist. Jeden Tag war er da, hat zu mir hinüber geblinkt. Und ich habe zurück geblinkt.

Der Kleine stand auf, und wendete sich zum gehen. Doch dann zögerte er, drehte sich um. Er schaute auf seinen  Sternenterminator, dann auf den kleinen Stern, und sein Gesicht war sehr traurig. Aber dann hellte es sich auf, so, wie nur Kindergesichter sich aufhellen können, und es war schöner als der Sonnenaufgang. Das Kind nahm den Sternenehemann und stellte ihn neben den kleinen Stern und die Flasche. “Er muß dich doch vor den Kometen beschützen”, sagte es fast entschuldigend, dann rannte es nach Hause.

So vergingen viele Tage, und der kleine Stern lernte viele Menschen kennen. Manche traten auf ihn drauf oder kickten ihn beiseite. Andere nahmen ihn ein Stück mit und ließ en ihn dann doch wieder fallen.  Einige nahem sich die Zeit, setzten sich zu ihm und machten ihm das Geschenk ihrer Nähe. Der kleine Stern lernte viel in dieser Zeit, sah Dinge, die ihn erschreckten, und Dinge, die wunderschön waren. Er lernte, dass der Sonnenaufgang, das Leuchten in den Augen und das Kinderlächeln all die Tritte und die Unachtsamkeit der Menschen leicht aufwogen. Er lernte, dass Wünsche eine ganz eigene Macht hatten. Und er lernte die Macht der Hoffnung kennen, in so vielen verschiedenen Gesichtern. Doch seinen Menschen fand er nicht. Bis eines Tages, die Sonne schien und die Vögel sangen, eine seltsame Gestalt des Weges kam. Sie trug einen schwarzen Mantel, der sich wie ein Schatten um sie legte, und einen lustigen schwarzen Hut. Sie tanzte den Bürgersteig entlang, sprang in die Pfützen des Vortages, und sag dabei mit schräger Stimme vor sich hin. Der kleine Stern dachte schon, sie würde vorbei tanzen, aber da blieb sie abrupt stehen. Der junge Mann blickte mit olivgrünen Augen auf den kleinen Stern herab, und da war wieder ein leuchten, anders diesmal, aber nicht minder schön. Es war das Leuchten der Phantasie. “Hallo, kleiner Stern. So allein?”  Der junge Mann ging in die Hocke und nahm seinen Hut ab. Strubbeliges irgendwie blondes Haar kam zum Vorschein. Wer bist denn du, wollte der kleine Stern wissen. “Was denkst du?” Der kleine Stern dachte über all das, was er erlebt hatte nach. Ein Geschichtenerzähler vielleicht, riet er. “Ja, das paßt gut. Ein Geschichtenerzähler. Das bin ich wirklich. Und du, du bist eine Geschichte.” Ja wirklich? Der kleine Stern war sehr erstaunt. Er, eine Geschichte? “Irgendwie schon. Eher ein Bindeglied zwischen den Geschichten, so wie ich. Wir geben ein gutes Paar ab, auf jeden Fall. Darf ich dich mitnehmen?” Der kleine Stern war zu verblüfft, um eine Antwort zu finden. “Keine Angst, ich will dich nicht behalten. Sicher finde ich eine Geschichte allein für dich. Die will ich dann schreiben, und dann, am Ende, findest du den Menschen, zu dem du gehörst. Wie klingt das? Das klingt ganz wundervoll. Fast so schön wie Kinderlachen, dachte sich der kleine Stern.

                                                          Und so nahm ich ihn mit...

Herzlich Ihr Rolf Dillmann-Team

 


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